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Welches Bild erwacht bei der Bezeichnung Löwe vor deinem inneren Auge?

Etwas Majestätisches? Herrscher über alle Tiere? König?

Oder eher ein gefährliches Wesen, was sich nicht scheut, Schwächere auszuschalten?

Vielleicht auch eine Kombination aus allem?

Was, wenn ein kleines Kind vor diesem zähnefletschenden Raubtier stünde… wissend, dass jede Bewegung seine letzte sein könnte – und dennoch weder die Augen abwendet, noch Willens ist, sich zu unterwerfen?

Wir, die Abschlussjahrgänge der Blumensteinschule, hatten am 28.04.2022 in der 3. und 4. Unterrichtsstunde das Privileg, dieses beschriebene Kind kennenzulernen – nur ist sie heute nicht mehr klein, sondern achtungswürdige 91 Jahre alt – und der Löwe ist kein Tier, sondern die personifizierte Bedrohung unserer Geschichte – Adolf Hitler, mit seinem gesamten Gefolge.

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Durch Videokonferenz wurde Frau Simone Arnold-Liebster virtuell in die Aula geholt. Eine rüstige alte Dame mit einem leichten, durch ihre elsässische Heimat bedingten französischen Akzent, lächelte uns entgegen. Herr Dewald, der Initiator dieser Veranstaltung, begrüßte sie herzlich und betonte die Ehre, die wir durch ihren – wenn auch nur virtuellen - Besuch empfanden. Ebenso richtete Herr Dewald Begrüßungsworte an den promovierten Historiker Tim Müller, der die Zeitzeugengespräche moderiert und durch seine weitreichende Expertise mit Wissen anreichert. Da Herr Müller schon zahlreiche Präsentationen dieser Art mit Frau Arnold-Liebster durchführen konnte, schien es für ihn ein Leichtes zu sein, ihre Geschichte für die Schülerinnen und Schüler greifbar zu präsentieren. Dazu erfreute ihn das rege Interesse für die doch so dunkle Seite unserer Geschichte sehr.

So lauschten wir Frau Arnold-Liebsters Erzählungen – Erzählungen über eine durch nationalsozialistischen Terror und Unterdrückung dominierte Kindheit und Jugend. Doch nicht nur das. Wie wahrscheinlich bei allen, die diese Zeiten durchleben mussten, bestimmte die Aufarbeitung dessen ihr gesamtes Leben. Schwer vorstellbare Wahrheiten für Schülerinnen und Schüler, die sich zum jetzigen Zeitpunkt in einer ähnlichen Altersphase befinden wie Frau Arnold-Liebster damals.

Ihre Jugend verlief ruhig und friedlich bis zur Machtergreifung Hitlers. Aufgewachsen als Einzelkind in einem streng gläubigen Elternhaus genoss sie es ihrer Mutter beim Bibellesen zuzuhören. Worte wurden Anlass zum Hinterfragen, Bedeutungen zu ergründen war ihr eine Freude. Aufgrund dieser intensiven Auseinandersetzung mit den Bibeltexten und der Glaubenslehre wechselte Familie Arnold vom katholischen Glauben zu den Zeugen Jehovas.

Damit gehörte sie zu den sog. „vergessenen Opfern“, die die relativ kleinen Gruppen an Verfolgten benennen, die aber dennoch nicht minder tragische Schicksale innehaben. Rund   14 000 Menschen wurden verfolgt, etwa 1700 Menschen verloren dabei ihr Leben. 600 Kinder jeden Alters wurden den Eltern weggenommen - die seelischen Schäden wurden durch die Täter emotionslos in Kauf genommen.

Eines dieser Kinder war Simone Arnold-Liebster. Als Jehovas Zeugin lehnte man jedwede Gewaltanwendung ab. Gott dürfe allein richten, nicht der Mensch. Man müsse seine Mitmenschen wie sich selbst lieben und dürfe einander nicht mit Gewalt begegnen oder gar töten. Aufgrund der offensichtlichen Ablehnung aller nationalsozialistischen Inhalte wurde die Familie Arnold Zielscheibe für öffentliche Ausgrenzung. Simones Vater wurde im September 1941 inhaftiert, da es aus deutscher Sicht kein Raum für „Nicht-mit-dem-Strom-Schwimmende“ geben durfte. Die 12-jährige Simone, die das Heben der rechten Hand genauso strikt ablehnte wie die Verwendung diverser nationalsozialistischer Grußformeln rückte ebenfalls in den Fokus. Kindern, die sich nicht anpassten, wurde eine Suspendierung verhängt oder Straflager angedroht. Simone wurde des Öfteren nach anderen Zeugen Jehovas ausgefragt, doch sie verweigerte stets die Aussage. Da es aber das Recht auf Lernen schon im vergangenen Jahrhundert gegeben hat, war ein Verweis der Schule aufgrund dessen nicht möglich. So verbrachte die kleine Simone ihre Schultage auf der hintersten Schulbank – ohne Schulmaterialien und mit dem Verbot, mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen. Da dieses junge Mädchen sich aber auch davon nicht beirren ließ, den Weg, den sie für richtig erachtete, weiterzugehen, folgte „diesem Fehlverhalten“ 1943 eine Einweisung in die „Wessenberg’sche Erziehungsanstalt für Mädchen“, einem Umerziehungsheim, welches Kindern wie Simone durch Repressalien den Willen brechen sollte. 35 Mädchen zwischen 6 und 14 Jahren ereilte das identische Schicksal. Sprechen wir hier von Schicksal, umfasst dies z. B. das Barfußlaufen von April bis November. Außerdem war es den Mädchen gänzlich untersagt miteinander zu sprechen. Nie und nirgends durfte miteinander verbal kommuniziert werden – ein für viele kaum vorstellbares Gebot. Natürlich kam es das ein oder andere Mal zu Verstößen gegen die Anweisungen der Institutsleitung und die Bestrafung folgte auf dem Fuße. Redete ein Kind, wurde ihm auf die Hände geschlagen. Bei zwei Schlägen wurde Nahrung verwehrt, bei vier waren es 48 Stunden ohne Essen. Die Anwesenheit der Kinder wurde jedoch eingefordert – mit einem „Dank“ für die Strafe. Da sich Simone jedoch stets regelkonform verhielt, musste sie zumindest diese Form der physischen und psychischen Folter nicht hautnah erleben. Nichtsdestotrotz sah sie sich stets über die Dauer des Aufenthalts mit Anfeindung und Ausgrenzung konfrontiert. Harte Arbeit – tagaus, tagein – von den frühen Morgenstunden an bis zum Einbruch der Dunkelheit – dominierten das schweigende Dasein. Für fast zwei lange Jahre – ohne jedwedes Wissen über den Verbleib der Eltern. Waren sie noch am Leben? Haben sie die Nazis gebrochen und den Glauben verloren?

Ihre Antworten auf diese Fragen erhielt sie im April 1945, als unverhofft ihre Mutter vor ihr stand, um sie abzuholen. Doch es kam nicht zu dem zu erwartenden herzlichen Wiedersehen. Die Hölle, die sie nicht nur durchwanderten, sondern die sie völlig umschloss, veränderten die Seelen. Frau Arnold-Liebster erkannte im ersten Moment ihre ehemals schöne Mutter gar nicht. Die Augen haben ihren Glanz, die Lippen das herzliche Lachen verloren. Gemeinsam reisten sie in die Heimat zurück und das Hoffen auf die Heimkehr des Vaters dominierte die weitere Zeit. Im Juni 1945 wurde ihre Sehnsucht gestillt und der Vater kehrte nach Jahren der Schikane,  Folter und Einsamkeit zur Familie zurück.

Die Zeit, die folgte, war dennoch nicht leicht zu ertragen. Bilder des Elends überdeckten die der schönen Vorkriegszeit. Wunden, die man nicht sieht, heilen oftmals langsamer. Jeder habe sein Leid im Stillen selbst getragen, geredet wurde darüber wenig. Die Narben blieben, verblassten aber ein wenig über die Jahre. Es war schon ein kleines Wunder, dass sie sich alle lebendig in die Arme schließen konnten, gerade weil die Eltern nicht selten nur knapp dem Tod entgangen waren.

Ihr großes Glück fand die nunmehr erwachsene Simone Übersee in Person ihres Mannes Max Liebster. Als jüdischer Immigrant in den USA traf er auf die junge Simone, die in den Vereinigten Staaten eine Missionarsausbildung durchlief. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich heirateten sie 1956 in Paris. Max Liebster selbst musste als verfolgter Jude 4 verschiedene Konzentrationslager überleben, bis er 1945 endlich von den Alliierten im KZ Buchenwald – eigentlich bei uns um die Ecke – befreit wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 richtete die Familie Arnold-Liebscher ihre Kraft auf die Aufklärung und die Sensibilisierung bezüglich Unterdrückung, Verfolgung und Völkermord aus. Zu diesen Zwecken gründeten sie die Arnold-Liebster-Stiftung, die weltweit agiert.

Diese Stiftung machte es uns erst möglich, in der Aula zu sitzen und der Lebensgeschichte dieser beeindruckenden Dame zuzuhören – der Geschichte eines kleinen Mädchens, was nicht weglief, als der Löwe am lautesten brüllte mit dem Ziel totaler Einschüchterung und dem Erzeugen von Todesangst. Sie blickte ihm entgegen, ganz bestimmt mit unvorstellbarer Angst, aber dennoch mit dem unerschütterlichen Glauben an ihre Ideale und Überzeugungen. Viele Menschen jeden Alters konnte sie zum Nachdenken anregen. Und da jedes Leben endlich ist und immer mehr dieser Stimmen versiegen werden, schrieb Frau Arnold-Liebster ihre ganz persönliche Geschichte nieder. Ihre Autobiographie mit dem Titel „Allein vor dem Löwen“ bereichert nun auch unsere Bibliothek und geht hoffentlich durch viele Hände. Im Anschluss beantwortete sie gern Fragen, die während des Vortrags aufkamen, nahm sich Zeit, auf jeden Einzelnen einzugehen. Unsere Geschichtslehrer luden uns im Anschluss in kleine Gesprächsrunden ein, lauschten unseren Eindrücken und unserem Empfinden während des Vortrags und schlossen inhaltliche bzw. fachliche Lücken, die sich ergeben haben.

Wir können unendlich dankbar sein, in einer Welt zu leben, die uns ein - mehr oder weniger - friedvolles Leben ermöglicht. Doch der Mensch vergisst zu schnell all das Böse, was Schmerz und Elend gebracht hat. Deshalb liegt es an jedem Einzelnen selbst, die Welt zu einem besseren Ort werden zu lassen.

Etwas Großes konnte man aus diesem Vortrag filtern: Wer auch immer euer Löwe ist und wie schwierig sich manche Situationen im Leben auch gestalten mögen - Verliert nie den Mut, das Richtige zu tun.

Vielen Dank Frau Arnold-Liebster und Herr Müller

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